Typisch lübsch (83)
Null-Basisdemokratie
Die Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck nimmt
keinen Rat der Einwohnerversammlung an!
Die Einwohnerversammlung dient
der "Erörterung wichtiger Angelegenheiten der Gemeinde", heißt es in
einem Kommentar zur Schleswig-Holsteinischen Gemeindeordnung.
Als wichtig gelten Angelegenheiten, die einen "besonderen Einfluss auf das
Gemeinschaftsleben" haben. In diesem Sinn waren die Beschlüsse der
Einwohnerversammlung am 1. November 2005 ohne Zweifel allesamt wichtig:
Kindertagesstätten, Bürgerbeteiligung, Flughafen, Härtefallregelungen,
Sonnenenergie, Verkehrsberuhigung, Hartz‑IV-Regelungen.
Keine Kleinigkeiten also.
Die
Einwohnerversammlung hat eine beratende Funktion gegenüber der Bürgerschaft,
ihre Entschließungen sind für die Bürgerschaft nicht bindend. In ihrer Sitzung
am 24. November hat die Bürgerschaft keinen einzigen Antrag der
Einwohnerversammlung angenommen. Maßgeblich für die Annahme-Verweigerung
war die Mehrheitspartei CDU. Rechtlich ist das einwandfrei, politisch stimmt da
etwas nicht.
Hören wir noch einmal die
Kommentatoren der Gemeindeordnung: Die Einwohnerversammlung "soll zu einer
stärkeren Bürgernähe führen", die EinwohnerInnen
"sollen intensiver als zuvor am kommunalen Geschehen teilnehmen
können". Diese Teilnahme sei "geeignet, die Akzeptanz von Entscheidungen
der Gemeindeorgane in wichtigen Angelegenheiten der Gemeinde zu stärken und
einer Partei‑ und Verwaltungsverdrossenheit entgegenzuwirken".
Ist diese Darstellung der
Rechtsgelehrten nun eine Satire auf die politische Wirklichkeit oder veralbert
die Mehrheit der Bürgerschaft wissentlich und willentlich den ernst gemeinten
Sinn des Gesetzes? Die TeilnehmerInnen der Einwohnerversammlung
werden am Besten wissen, ob ihre Akzeptanz der Bürgerschaftsentscheidungen
jetzt gestärkt ist.
Quelle: Hans-Jürgen Schubert
für die Bürgerschaftsfraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Lübecker Stadtzeitung
vom 3.1.2006