Heinrich Manns Lübeck
Heinrich Mann erlebte die
Bürgerwelt Lübecks als Sohn eines gebildeten und hochangesehenen Hauses - und
trat ihr früh als äußerst kritischer Beobachter entgegen. Er bekannte in ersten
literarischen Versuchen seine der bürgerlichen Umwelt sehr zuwiderlaufenden
Ansichten über Kunst, Moral und Gesellschaft. Vor allem verachtete er die vom
Geld beherrschte Welt der Bourgeois. Seine Bürgerkritik setzte früh ein; sie
kam zunächst aus der Sicht des Künstlers. Dem satten Bürgertum Lübecker
Observanz warf er seine gesicherte Existenz auf Kosten anderer, seine
Geschäfte, seinen Mangel an Idealen und das Unverständnis gegenüber Kunst und
Poesie vor.
Die Lübecker Erfahrungen summierte
der gerade Achtzehnjährige in der 1889 verfaßten Novellette "Fantasien
über meine Vaterstadt L.". Sie blieb, verständlicherweise, damals
unveröffentlicht.
Mai 89.
Fantasieen über meine Vaterstadt L.
Halten
Sie sich nicht das Näschen zu, mein Fräulein, wenn Sie, zum ersten Male die
Straßen meiner geliebten Vaterstadt durchschreitend, durch den in einigen
derselben herrschenden, Fremde mehr oder weniger beleidigenden Unwohlgeruch
unangenehm berührt werden sollten. Das ist nämlich kein gewöhnlicher Gestank,
das ist ein Gestank, wie ihn nicht jede Stadt besitzt, das ist ein
Millionengestank.
Sie
schauen mich mit Ihren schönen Augen fragend an? Oh, mein Fräulein, ich muß
suchen, Ihnen verständlich zu werden.
Wenn
ein Mensch nach Petroleum oder Leder duftet, so werden Sie sicher neben andern,
weniger liebenswürdigen Gedanken auch den haben, dieser Mensch handle mit
Petroleum oder Leder.
Wenn
dieser Mensch stark nach den erwähnten Handelsartikeln duftet, werden Sie die
gewiß nicht unbegründete Vermutung aufstellen, er mache gute Geschäfte; wenn er
nun aber sehr stark, sehr eindringlich jene merkantilen Gerüche ausströmt,
werden Sie nicht unwillkürlich zu der Annahme gelangen, dieser Mensch müsse
sehr, ja außerordentlich reich sein, vielleicht Millionär ‑ ‑ mein
Fräulein, Sie verstehen jetzt den Ausdruck "Millionengestank".
Mit
einer Stadt liegen die Sachen natürlich gerade so wie mit dem einzelnen Manne, ‑
und, ich kann es zur Ehre meiner Vaterstadt sagen ‑ dieselbe riecht
wahrhaft wohlhabend, stinkt sozusagen behäbig.
Immerhin
giebt es selbst in L. einige Straßen, welche an einer wahrhaft armseligen
Geruchslosigkeit leiden, so besonders die Straße, in welcher das Theater liegt.
Welch' ein bedauerliches Institut! Wer verdient denn etwas dabei? Kaum der
Direktor; denn die weit einträglicheren und erfolgreicheren Geschäfte, welche
gewisse Damen vom Theater zuweilen mit wohlaccreditierten L.'er Herren eingehen,
sind viel zu diskreten ‑ Geruches, um hier erwähnt zu werden.
Aber
das Theater mitsamt der ganzen pöbelhaft geruchlosen Straße sind eigentlich nur
ein großes Siegesdenkmal, ein Denkmal des siegreichen Verstandes der
unübertrefflichen L.'er.
Oder
ist es etwa nicht ein wahrhaft genialer Gedanke, gerade in diese Straße und in
unmittelbarste Nähe des Theaters ein Institut zu legen, welches die schlechten
und geruchlosen Eigenschaften der Kunsthalle wenigstens einigermaßen zu heben
im Stande ist? ‑ ich meine nämlich die Börse.
"Welch'
ein genialer Gedanke!" muß ich wiederholen, wenn ich zur Mittagsstunde die
meist schon ans der Ferne einen recht behäbigen Eindruck machenden Kaufherrn
daherkommen sehe; einen Eindruck, der in der Nähe durch den lieblichsten Geruch
bedeutend erhöht wird. Und mit diesem Duft, der unauslöschlich an ihnen haftet,
mit diesem Duft von Käse, Petroleum, Schmalz, Leder etc. etc. schwängern und ‑
bereichern sie die Luft, und dieser Duft ‑ -
Oh,
mein Fräulein, die Worte versagen mir, und in überströmender Bewunderung vermag
ich nur auszurufen:
"Welch' ein genialer Gedankel"
Es
ist doch gut, daß L. nur ein Theater besitzt. Man denke sich, es seien etwa ein
halbes Dutzend Straßen von derartiger fataler Geruchlosigkeit zu befreien: ‑
ich fürchte, selbst den L.'ern gingen auf die Dauer die genialen Gedanken aus.
Aber, Gott sei gedankt, L. hat nur ein Theater.
Dagegen
besitzt es, Gott sei auch hierfür gedankt, fünf Kirchen.
Diese sind ‑ danken wir schließlich Gott auch
hierfür ‑ stets leidlich gefüllt, womit ich indessen nicht behaupten
will, daß die L.'er an besonderer Frömmigkeit laborierten.
Mein
Fräulein, ich halte Sie für religiös genug, um des Kirchenbesuchs nicht zu
benötigen. Sie werden daher nicht wissen, von welcher Beschaffenheit dies
gottselige "Sonntagspublikum" ist. Das ist aber sehr einfach.
Es
giebt wohl in jeder Familie sogenannte "arme Verwandte". Diese
unglücklichen Existenzen, welche, von ihren mehr mit Glücksgütern gesegneten
Verwandten abhängig, sich in alles, was diese etwa für unvermeidlich ansehen,
mit Würde schicken müssen, werden unter anderm auch dazu mißbraucht, die Sünden
der "lieben Ihrigen" abzubeten, was sie um so lieber thun, als
derartige "arme Verwandte" gewöhnlich stille, anspruchslose und sehr
bescheidene Menschen sind, die lieber auf die Rede kluger Leute hören, als
selbst ihre unmaßgebliche Meinung laut werden lassen, und daher die etwas einseitige
Unterhaltung in der Kirche jeder andern vorziehen. Hierzu kommt, daß die
wohlhabenden Familienmitglieder meistens dem Grundsatze folgen, ihre armen
Verwandten körperlich möglichst herauszufüttern, damit diese ja durch schlecht
genährtes Aussehen der Familie, deren Namen sie ‑ leider ‑ zu
führen berechtigt sind, keine Schande machen, ‑ für geistige Nahrung zu
sorgen jedoch für höchst überflüssig, ja gefährlich halten, da diese
bekanntlich selbst der anerkanntesten Anlage zur Fettsucht nicht förderlich zu
sein vermag.
Aus
diesem Grunde müssen die "armen Verwandten", denen der Genuß, andere
Schauspieler zu bewundern, nicht vergönnt ist, mit den geistlichen Akteurs
vorlieb nehmen.
Aus
diesem Grunde auch werden dieselben oftmals sogar von der Teilnahme an den
Gesprächsthematen ihrer glücklicheren Verwandten ausgeschlossen und müssen sich
auf allgemeine Bemerkungen über die Schlechtigkeit des Wetters und der Zeiten
beschränken.
Die
armen "armen Verwandten"! Sie sind meistens geistig so wenig
entwickelt, daß sie diese Ausschließung nicht einmal für ein Unglück halten.
Und ein wie großer Verlust ist es doch, den sie erleiden.
Was
für unbeschreiblich schöne Unterhaltungsstoffe bieten sich den
"Gebildeten" dar, zu denen die wohlhabenden Verwandten natürlich sämtlich
gehören.
Worüber unterhält man sich in L.? ‑
Kann
man überhaupt an Unterhaltung denken, ohne höher pulsierenden Herzens des
weiten, nie ganz erforschten Gebietes voll unermeßlicher Geistesschätze zu
gedenken, welches sich dem "Gebildeten" zu ebenso anregender und
belehrender wie fesselnder Unterhaltung aufthut: ‑ Der Politik ... ?
Ich behaupte: "Nein ! "
Und
was insbesondere meine Vaterstadt L. anbetrifft, so glaube ich mit meiner
Behauptung volles Redit zu haben. Welch' eine schöne und ‑ ungefährliche
Politik ist es aber auch, die sich den diplomatisierenden L.'ern zu eingehender
Besprechung darbietet.
Da
handelt es sich nicht um frevelhafte Umsturzideen, nicht um verbrecherische
Revolutionen oder neu emporstrebende Fürstengeschlechter; gewiß sehr anregende
Gesprächsstoffe, bei deren Behandlung jedoch seinerzeit den Großvätern der
jetzigen L.'er Generation recht unangenehme Dinge passiert, wovon auch noch
jetzt ein steinerner Klotz beredtes Zeugnis ablegt, der genau an der Stelle
steht, wo in jener schlimmen Zeit ein wackerer L.'er Bürger, der seiner
patriotisch‑politischen Begierde etwas zu unvorsichtig die Zügel hatte
schießen lassen, zum großen Schrecken seiner sämtlichen Mitbürger wie seiner
selbst füsiliert wurde.
Wenn
so ein L.'er Vollbürger an diesem Denkklotz vorüberwandelt und vorsichtig durch
die Büsche späht, welche das Füsiliermonument den Blicken etwaiger von der
Krankheit des Jahrhunderts, der Nervosität, angekränkelter L.'er verbergen,
dann glänzt es wie eitel Sonnenschein auf seinem Antlitz.
Das
kommt von dem überaus wohlthuenden Gefühl der Sicherheit das durch seinen
ganzen Körper rieselt.
Ja,
er redet mit dem Gefühl vollendetster Sicherheit von dem Invaliden‑ und
Altersversorgungsgesetz, von dem Tabacks‑ und Branntweinmonopol, und er
hat dabei das Bewußtsein, daß ihm unter keiner Bedingung auch nur ein Haar gekrümmt
wird.
Nein, wirklich kein Haar!
Auch
den Rücken braucht er nicht zu krümmen, denn er ist ein vollkommen freier Mann,
‑ und, ‑ wer das Selbstbewußtsein eines L.'ers besitzt, der könnte
sich getrost von oben bis unten mit Ketten von nicht zu leichtem Eisen
behängen, ‑ und er wäre doch frei!
Aber
halten Sie die Bürger meiner Vaterstadt nicht für Freiheitsflegel! Sie würden
ihnen bitter Unrecht thun, dieselben ordnen sich willig den rechtmäßigen und
anerkannten Herren unter, z. B. der Mode. Oder ist nicht, um in unserer
bisherigen Gedankenverbindung zu bleiben, die Politik ein wahrhaft modernes
Gesprächsthema?
Jeder
L'er weiß das und wird sich ganz besonders hüten, in der Unterhaltung vom Pfade
des Modernen abzuweichen und zum Beispiel in einer Gesellschaft ein so
abgestandenes u. veraltetes Thema zu behandeln, wie die Poesie und Literatur.
"Wie
kann es denn in unserem durch u. durch praktischen Zeitalter noch Leute geben,
die sich mit dergleichen unpraktischen Dinge beschäftigen? Und wer soll an
diese Fabelwelt, welche die "Dichter" begeistert, noch glauben? Die
andern Märchen, die der Religion nämlich, sind doch längst abgeschafft, und es
wird gewiß keinem vernünftigen Menschen einfallen, dieselben für Wahrheit zu
nehmen ‑ vielleicht nicht einmal den "armen Verwandten", welche
die L'er Kirchen füllen ‑, für diesen "poetischen" Blödsinn
aber soll man sich begeistern? ‑ Blödsinn!"
Sie
schütteln ob dieses echt L'er Gedankenganges das Köpfchen, mein Fräulein, und
sprechen die Vermutung aus, die Bürger meiner Vaterstadt müssen recht wenig, um
nicht zu sagen gar kein Schönheitsgefühl besitzen. Mein Fräulein, Sie thuen
meinen L'ern zum zweiten Mal unrecht. Dieselben besitzen nämlich ein
Schönheitsgefühl in derartig hohem Grade, daß sie auf einem ihrer belebtesten
Plätze einer unserer namhaftesten Lyriker, der das unverdiente Glück hatte, in
L. das Licht der Welt zu erblicken, ein Denkmal errichten. ‑ "Aber
welche Inkonsequenz!" rufen Sie aus und thun meinen armen L'ern zum
dritten Male unrecht.
Es
ist gewiß ein schöner Zug der Zeit, das Andenken vergangener Zeiten, Dinge und
Menschen zu ehren, die frühere Generationen begeisterten, ‑ Man liest
gewiß keine lyrischen Poesieen mehr; dies wäre unverzeihliche
Zeitverschwendung; aber man setzt den toten Dichtern Denkmäler, wobei meine
Vaterstadt L. nicht zurückbleibt hinter Botzen und Düsseldorf.
In: Sinn
und Form, Berlin. Jg 15, H. I, Januar 1963, S. 155-158
Quelle:
"Heinrich Mann 1871-1950", herausgegeben von der Deutschen Akademie
der Künste zu Berlin anläßlich der Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag,
Ausstellung und Katalog: Sigrid Anger, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1971