Disziplinierende Singularität
Kaum etwas charakterisiert die
(...) Ausrichtung der bundesrepublikanischen Geschichtsdeutung (...) treffender
als die Formel von der "Singularität der nationalsozialistischen
Verbrechen". Kein Historiker hierzulande kann es sich mehr leisten, diese
Sichtweise in Zweifel zu ziehen, da er sonst seine berufliche Existenz
gefährden oder gar einen Strafprozeß riskieren würde. Wer nach einer Begründung
für diese "Einzigartigkeit" fragt, wird meist auf Motivation und
Ausführung dieses Menschheitsverbrechens verwiesen ‑ freilich so gut wie
nie auf die Zahl der Opfer, von denen bekanntlich die europäischen Juden die
größte Gruppe darstellen. Denn die Opferzahl stalinistischer Gewaltverbrechen
ist um ein Vielfaches höher. Die ebenfalls in die Zig-Millionen gehenden
Opferzahlen anderer kommunistischer Gewaltregime sind dabei noch nicht einmal
berücksichtigt.
Ob nun "Klassenmord"
weniger verwerflich ist als "Rassenmord", ist eher eine
philosophische Frage. Für den einzelnen machte es letztendlich keinen
Unterschied, ob er aus Klassenhaß oder aus Rassen- respektive Judenhaß gequält
und umgebracht wurde, ob er im Stalinschen Archipel Gulag vor Hunger und
Erschöpfung elend verreckte oder in einem NS‑Vernichtungslager durch
Giftgas "industriell" getötet wurde. NS‑bezogene
"Singularität" ist ein begriffliches Disziplinierungs-instrument
linker Gralshüter des deutschen kollektiven Schuldkomplexes, die damit die
historische Wahrheit, daß die stalinistischen und nationalsozialistischen
Verbrechen auf ein und derselben amoralischen Ebene angesiedelt sind, aus dem
öffentlichen Bewußtsein verdrängen wollen. Diesen Geschichtsmanipulateuren sei ‑
in Anlehnung an einen Ausspruch Max Horkheimers ‑ zugerufen: Wer vom
Archipel Gulag nicht sprechen will, sollte tunlichst auch von Auschwitz
schweigen!
BERND
SYDOW, BERLIN
Quelle: Leserbrief in JUNGE FREIHEIT vom 9. Juni 2006