Typisch lübscher Umgang mit Minderheiten

 

Ich sah Baruch Langsner erst 1938 aus der Nähe wieder, nachdem wir von der Dankwarts‑ in die Marlesgrube umgezogen waren. Ich sah ihn an dem Tag, nachdem meiner Mutter Partei (NSDAP, d.V.) auch in Lübeck die Synagoge abbrannte und Kaufhäuser von Juden demolierte, und dann holten sie Baruch Langsner ab. SA‑Leute hatten ihn in einen grotesk kleinen Handwagen gesetzt, in dem er hockte und immerzu mit erhobenem rechtem Arm »Heil Hitler« schrie, und er hatte sein merkwürdiges Lächeln nicht mehr im Gesicht, sondern nackte Angst, und auch seine Filzkappe trug er nicht mehr, und die SA‑Leute, die ihn zogen und die kleine Handkarre begleiteten, betrachteten ihn voller Verachtung, als transportierten sie ein Stück Dreck, das dringend auf die Müllhalde müsse.

Sie holten ihn nicht insgeheim, nicht bei Nacht und Nebel, sondern sie machten eine demütigende Demonstration aus seinem Exodus, ein Zeichen der Zeit, einen kleinen Triumphzug, und genossen die auf dem Trottoir der oberen Marlesgrube stehende Öffentlichkeit. Irgend jemand rief »Judenlümmel«, und jemand anders empörte sich darüber, daß »der Kerl« den Namen Hitlers mißbrauche, und Mutter sagte, daß sie ihn nicht unbedingt auf einer Handkarre hätten abholen müssen, »das war doch nicht nötig«, sagte sie ...

 

Quelle: "Hitler kam aus der Dankwartsgrube" von Rolf Winter, 1991

 

Anmerkung: Rolf Winter war Chefredakteur des STERN. Sein Buch über seine Jugend ist so ziemlich das Ergreifendste, was ich über Lübeck in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gelesen habe. Der Umgang mit Minderheiten und abweichenden Gesinnungen hat sich in Lübeck bis heute - wenn überhaupt - nur geringfügig verändert. Wie Gerhard Mauz vom SPIEGEL richtig bemerkte, wird diese Stadt von einem unbekannten, bzw. nur den Eingeweihten bekannten Regisseur heimgesucht, welcher der Hölle näher steht als dem Himmel.