Biegen oder brechen
In Lübeck torkelten in einer
der letzten Nächte Dutzende buntbemützter Jünglinge durch die stillen Straßen.
Offenbar waren es Abiturienten einer hiesigen höheren Lehranstalt. Von einem
Stadtteil zum andern grölten sie ihre nationalistischen Lieder. Ihr wüstes und
bubenhaftes Geschimpfe auf die Republik, ihre nicht wiederzugebenden Äußerungen
über republikanische und sozialdemokratische Staatsmänner verrieten
Hakenkreuzgeist niedrigster Stufe.
So im Reiche, so in Lübeck.
Das ist der Geist, der auf den höheren Schulen der deutschen Republik gepflegt
wird. Wie lange noch? Seit drei Jahren werden die Arbeiter mit Versprechungen
genarrt. Seit drei Jahren vertröstet man die drängenden Massen damit, daß nicht
alles an einem Tag geschehen könne. Dabei wird es jeden Tag schlimmer! Sieht
man denn irgendwo den Anfang einer Besserung? Man nenne uns einen!
Lübeck ist ein Staat mit
sozialistischer Mehrheitsregierung. Trotzdem ist nichts besser als anderswo.
Heute noch wie zu Wilhelms Zeiten ist das gesamte höhere Schulwesen eine Insel
für das Bürgertum, erzieht der Staat mit dem von Arbeitern mühsam erschundenen Geld Herrensöhne zu Feinden der Arbeiterschaft
und der Republik.
Ist das bei der gegenwärtigen
Zusammensetzung unserer Oberschulbehörde irgendwie verwunderlich? Die gleichen
Herren, die einst das Schulwesen zur vollen Zufriedenheit des alten Staates
leiteten, stehen jetzt noch an seiner Spitze. Drei Jahre haben sie gebraucht,
bis sie nach langem Drängen der Bürgerschaft sich dazu bequemten, ihren alten
kaiserlichen Halbgott aus den Klassenzimmern zu entfernen. Und drei Jahre haben
ihnen noch nicht genügt, die Schulbücher von dem alten Hohenzollernkitsch zu
reinigen. [ ... ]
Ein neues Unterrichtsgesetz
soll vorbereitet werden. Was wird dabei für die Republik herauskommen? Bei
dieser Oberschulbehörde nichts! Es ist eine rücksichtslose Reform an Haupt und
Gliedern nötig. Ganz oben müssen alle Änderungen einsetzen. Dann wird leichte
Arbeit sein; dann werden wir leicht die Schulen in unserem Sinne ausbauen
können.
Wir verlangen, daß der Staat
die höhere Schulbildung jedem befähigten Kind ermöglicht; ohne Rücksicht auf
den Geldsack des Vaters. Und wir verlangen ferner, daß die höheren Schulen
rücksichtslos gesäubert werden von allen, die nur vermöge ihres Reichtums dort
sitzen. Sollen bis in alle Zukunft hinein die Arbeiter dafür schuften, daß
reiche Dummköpfe mit gewaltigem Staatszuschuß auf den Schulen mitgeschleppt
werden, während für Arbeiterkinder kein Platz und kein Geld vorhanden ist?
Sollen wir noch lange zusehen,
wie an Gymnasien und Realschulen eine vom Staat bezahlte Lehrerschaft ihre
Stellung dazu mißbraucht, gegen Republik und Sozialismus zu hetzen? In die
Schule gehört keine Parteipolitik. Aber freudiges Eintreten für die republikanische
Staatsform, für den Gedanken des neuen Staates ist unbedingtes Erfordernis.
Lehrer, die solchem Erfordernis nicht genügen, haben im Dienst der Republik
nichts mehr zu suchen. Sie mögen sich ihr Brot als Hauslehrer bei junkerlichen und adligen Dummköpfen verdienen. Zu deren Schuhriemenlösern eignen sich ihre Knechtseelen besser als
zu Jugenderziehern in der freien deutschen Republik.
Dr. Julius Leber am 17.3.1922