Bei den
Besseren
"Unrat ward entlassen.
Er behielt das Recht, seine
Lehrtätigkeit bis zum Herbst fortzusetzen. Er brach sie aber, im Einvernehmen
mit der vorgesetzten Behörde, sofort ab. An einem von Unrats ersten schulfreien
Vormittagen, wie er, unbeschäftigt und planlos für immer, im Sofa saß, kam
Pastor Quittjens. Er hatte zugesehen, wie hier jemand immer tiefer in Sünde und
Verlegenheit hineinritt. Jetzt, da der Mann am Boden lag, war er der Meinung,
daß für das Christentum etwas zu machen sei.
Er begann sofort, und rauchte dabei
eine Zigarre, wie jeder andere Mensch, sich über Unrats traurige Sachen zu
erbarmen, über seine Vereinsamung, über die Anfeindungen, denen er sich gerade
von seiten der Besseren ausgesetzt habe. So etwas habe doch niemand gern,
dagegen müsse man was tun. Wenn Unrat wenigstens noch seine gewohnte Tätigkeit
besäße. Seine Entlassung mache das Unglück voll, indem sie ihn seinen bittern
Gedanken rettungslos ausliefere ... Nun, rettungslos sei zu viel gesagt. Pastor
Quittjens mache sich anheischig, für Unrats Wiederaufnahme bei den Besseren zu
sorgen, ihn in einen politischen Verein, in einen Kegelklub hineinzulotsen.
Bedingung sei allerdings ‑ dies schien der Pastor zu bedauern und als
unvermeidliches Uebel anzusehen ‑, daß Unrat vor Gott und den Menschen
seine Verirrungen bereuen und ihnen ein Ende machen müsse.
Unrat antwortete hierauf so gut wie
nichts. Der Vorschlag interessierte ihn nicht. Wenn er schon der Künstlerin
Fröhlich verlustig ging, fand er es zwecklos, eine Kegelpartie dafür
einzutauschen.
Darauf griff Pastor Quittjens zu
größeren Gesichtspunkten. Er beklagte die Schüler, denen ein zu ihrer Hut
Berufener die Schwelle des Jünglingsalters durch solch ein Beispiel vergifte.
Und nicht nur die Schüler der Untersekunda, nein, alle andern ebenso; und nicht
nur alle andern innerhalb des Gymnasiums, sondern, über die Mauer des
Gymnasiums hinaus, alle die ehemaligen Schüler - also die Stadt in ihrer
Gesamtheit. Alle diese, und Pastor Quittjens ließ seine Zigarre ausgehn, müßten
an den Lehren ihrer Jugend Zweifel empfangen und in ihrem schlichten Glauben
wankend werden. Ob denn Unrat so schwere Dinge auf sein Gewissen nehmen wolle.
Schon sei der Knabe Kieselack ins Unglück geraten, und Unrat werde wohl nicht
verkennen, daß für den Fall dieses Kindes ihm selbst eine Mitverantwortlichkeit
zukomme. Das sei aber sicher nicht der einzige Schade, den der Abfall eines
Mannes wie Unrat von Glaube und Sitte zu stiften bestimmt sei..."
Quelle: "Professor Unrat - Das Ende eines Tyrannen" von Heinrich
Mann (1905), Ausgabe Berlin 1925, S. 175 - 177
"Konkreter und anschaulicher
wird Heinrich Mann, sobald er sich auf deutsche Verhältnisse bezieht. In seinem
Roman "Professor Unrat" (1905)
findet er die Figur eines preußischen Schultyrannen als Exempel für die
Herkunft des Despotismus aus menschlicher Schwäche, seine soziale
Gefährlichkeit und zugleich seine politische Verwendbarkeit im bürgerlich‑feudalen
wilhelminischen Klassenstaat. Der Despot im Schulamt hat seine Menschenwürde
verloren und bekämpft in seiner Umgebung jede menschliche Regung, wird aber zum
Anarchisten, sobald sich in ihm etwas Menschliches regt. Er ist nur der
deutlichste für die Krise der Menschenwürde, in der eine ganze Gesellschaft
steht."
Quelle: "Heinrich Mann" von Volker Ebersbach, RECLAM BIOGRAFIEN,
Leipzig 1978, S. 137