Ein
Deutschland!
Feierlich treten wir nunmehr
in das Jahr 1919,
und es freut uns, daß wir
allhier versammelt Feind und Freund sehn;
unserm tierischen Gehaben
entsprechend wollen wir sie beschnuppern
und betrachten,
und, je nachdem, beißen oder auf den Popo klapsen
oder schweigend
achten.
Wie ist das zunächst mit
Oberschlesien?
Sind da die Herren
Schwarzröcke im Spiel gewesien?
Oder markieren alldort die
lieben Polen
den Teufel, der die Deutschen will holen?
Es knistert aber nicht nur an
dieser Stelle im Reiche;
im Rheinland beobachten wir
ganz das gleiche:
auch hier möchte man sich
selbständig machen, und nicht minder
partikularistisch erglänzt
der Vereinszylinder.
Und es ertönt die alte
deutsche Musike:
Wir wollen unsere eigene
kleine Republike!
Zweitausend Jahre alt ist
diese Melodie —
und es scheint fast so, als
lernten die Deutschen es nie.
Haben sie denn nicht begriffen, was vor sich gegangen?
Fühlen sie nicht im Osten und
Westen die klemmenden Zangen?
Müssen sich denn die
Deutschen immer untereinander zanken
und von Kürassierstiefel zum
Schlafrock hin und wider wanken?
Ein Deutschland! Soll das
niemals anders werden?
Ein Deutschland ohne diese
lächerlichen Bürgergebärden —
Ein Deutschland! Freunde,
seid klug und gebt euch die Hand!
Wir pfeifen auf schrilles
Hurrageschrei. Wir brauchen
ein Vaterland!
Quelle: Kurt Tucholsky (1919)