Bayernmob

 

Der berliner Arzt Doktor Magnus Hirschfeld hat in München einen Vortrag über die Steinachsche Verjüngungstheorie gehalten. Nach dem Vortrag wurde er vom Podium heruntergeholt und zerschlagen. Nach seiner Einlieferung in ein Krankenhaus hieß es sogar schon, er sei gestorben. Die Nachricht wurde dann dementiert. Er lebt noch. Der bayerische Bierpöbel auch.

Die Persönlichkeit des Doktor Hirschfeld ist vielen von uns nicht allzu angenehm. Sein allzu hitziges und nicht immer geschmackvolles Eintreten für die Homosexuellen hat es jahrelang fast unmöglich ge­macht, die Aufhebung des § 175 zu betreiben, weil sich die Materie unter seinen Händen langsam in ein Moorbad verwandelt hatte. Eine ziemlich üble Mischung von kitschiger Sentimentalität, falscher Ro­mantik und einer Schein-Wissenschaftlichkeit, die mancher männ­lichen Jungfer einen Ersatz für das Leben bot, zeichneten Werke und Wirken des Mannes aus. Seine Aufklärungsfilme waren entsprechend. Es liegt uns ganz fern, aus dem Mann einen Märtyrer zu machen.

Hier handelt es sich darum, daß Bayern immer mehr dem Deutschen Reich entfremdet wird und daß der Gegensatz zwischen Deutschen und Holländern nicht so groß ist, wie der zwischen Bayern und Preußen. Der Reichsgedanke ist nie stark bei uns gewesen: Escherich und der Klerus haben ihn vollends abgewürgt.

  Am traurigsten ist die Rolle der Justiz. Vom Polizeibeamten bis herunter zum Staatsanwalt rührt keiner freiwillig einen Finger, um feige Lümmel, die einen Wehrlosen, hundert gegen einen, verletzen, vor Gericht zu ziehen. (Und wenn sie da wirklich stehen, geschieht ihnen auch nicht viel.) Unter der Binde der Justitia leuchten zwei wohlgefällig plinkernde Augen. Sie billigen dieses Treiben alle.

Warum hat man den Doktor Hirschfeld geschlagen? Man hat ihn geschlagen, weil in diesen dumpfen Spießergehirnen die Begriffe: Aufklärungsfilm, Jude, Preuße, Bolschewismus, Dadaismus, Pazifis­mus und kein Vollbier — weil sich all das in diesen Gehirnen zu einem unentwirrbaren Knäuel verfilzt hatte. Hepp hepp hurra! Es ist ein dumpfer Drang in diesen Leuten, der ihnen gebietet, Ein­wohnerwehren zu machen und den Forstrat Escherich aufs Schild zu heben, der sich im Kriege bei Bialystok stark gedrückt hatte, wo es am waldigsten war. Dazu kommt der spezifisch deutsche Glaube, man könne mit Fäusten, Stuhlbeinen und Handgranaten einer geistigen Bewegung zum Siege verhelfen.

Keine Schandtat einer Räterepublik reicht an die fortgesetzte rohe Verwaltungspraxis dieses partikularistischen süddeutschen Staates her­an. Das Reich ist völlig machtlos. Hättet ihr am 9. November die Bundesstaaten zerschlagen: es ginge uns heute besser. Jedes kleine Krähwinkel beansprucht seine Stammeseigentümlichkeiten und ver­steht darunter seine Fehler.

Wie man auch zum Doktor Hirschfeld stehen mag: noch ist er Bürger eines Reiches, das ihn zu schützen hat. Solange aber in allen Köpfen der Glaube wächst, Verbrecher in Uniformen seien keine, und das luderhafte Verhalten deutschnationaler Studenten sei der Erguß der freien Volksseele — solange Gesetze und Verfügungen des Entwaffnungskommissars und Verordnungen der Sicherheitsbehörden für gut bürgerlich gesinnte Skatpatrioten nicht gelten, solange ist der Jude vogelfrei. Vogelfrei der Sozialist, der Radikale, der Geistige, der Arbeiter.

Ich halte die Person des verletzten Arztes für belanglos. Die Sache ists nicht. Wir sollten den Mut haben, den Dingen offen ins Auge zu sehen und zu sagen:

Der Reichsgedanke in Bayern ist kaum noch vorhanden. Bayern ist selbständig, das Reich ohnmächtig. Zwei Jahre nach einer sogenann­ten Revolution sind alle rechtsstehenden Kreise schwer bewaffnet, die radikalen Arbeiterführer ermordet oder eingekerkert.

Und was tun wir?

Wir spalten uns.

 

Quelle: Kurt Tucholsky im Jahre 1920 („Hepp Hepp Hurra“)

 

Anmerkung: Wie fehlen uns heute in den publizistischen Auseinandersetzungen schreibgewandte, integere und kritische Geistesgrößen vom Schlage eines Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky und Karl Kraus.

Noch kurz zur Erläuterung des Textes:

„Hepp Hepp Hurra“ war schon im Mittelalter quasi der Schlachtruf bei Judenpogromen.

Dr. Magnus Hirschfeld (1868 – 1935) war Arzt und Sexualforscher.

Forstrat Georg Escherich (1870 – 1941) war Landeshauptmann der bayerischen Einwohnerwehren und Gründer der „Organisation Escherich“. Einen kritischen Artikel zur „Organisation Escherich“ verdanken wir Carl von Ossietzky, abgedruckt in „Neue Schweizer Zeitung“ vom 13. August 1920 unter der Überschrift „Orgesch“ (nachzulesen auch in Carl von Ossietzky, „Sämtliche Schriften“, Band I Nr. 81, S. 251 – 254)