Richter - Moral
Der Mythos von der
hohen Moral der Richter
Der Tiefschlaf richterlicher
Selbstzufriedenheit wird selten gestört. Kritik von Prozessparteien, Anwälten
und Politikern prallt an einem Wall gutorganisierter und funktionierender
Selbstimmunisierungsmechanismen ab. Die Kritik von Anwälten und Prozessparteien
wird regelmäßig als einseitig zuruckgewiesen, die von Journalisten mangels
Fachkompetenz nicht ernst genommen und die von Politikern als Angriff auf die
richterliche Unabhängigkeit denunziert. Es ist ein Phänomen unserer
Mediendemokratie, dass ein Berufsstand, der über eine so zentrale politische,
soziale und wirtschaftliche Macht verfügt wie die Richterschaft, sich so
erfolgreich dem Prüfstand öffentlicher Kritik entzogen hat. Dabei hat die Richterschaft
allen Anlass, in eine kritische Auseinandersetzung mit sich selbst einzutreten.
Die Rechtsprechung ist schon seit langem konkursreif. Sie ist teuer, nicht
kalkulierbar und zeitraubend. Nur noch 30 Prozent der Bevölkerung haben volles
Vertrauen zur Justiz. Der Lotteriecharakter der Rechtsprechung, das autoritäre
Gehabe, die unverständliche Sprache und die Arroganz vieler Richter (innen) im
Umgang mit dem rechtsuchenden Bürger schaffen Misstrauen und Ablehnung. Darüber
hinaus signalisieren viele Gerichtsentscheidungen eine Geisteshaltung, die
tendenziell frauen‑, gewerkschafts‑ und ausländerfeindlich ist. Das
Sozialstaatsprinzip ist in der Rechtsprechung zur kleinen Schwester des großen
Bruders Rechtsstaat verkümmert. Die Verwaltungsgerichte, insbesondere die
Oberverwaltungsgerichte, entscheiden im Zweifel für den Staat und gegen den
Bürger. Manche Oberverwaltungsgerichte (z. B. das Oberverwaltungsgericht
Lüneburg) haben sich zu einer Wagenburg der Obrigkeit entwickelt. Für viele
Strafrichter ist der Strafprozess noch immer ein "Gesundbrunnen" und
das Eigentum wichtiger als Gesundheit und Leben. Das Fortbildungsinteresse von
Richtern ist schwach ausgeprägt und nur dann zu fördern, wenn ein
"anständiges" Beiprogramm die Mühseligkeit der Fortbildung versüßt.
Insbesondere sozialwissenschaftlichen, psychologischen und kriminologischen
Erkenntnissen begegnet die Richterschaft in ihrer überwiegenden Mehrheit mit
erschreckender Ignoranz und greift statt dessen lieber auf Alltagsweisheiten
und Stammtischwahrheiten zurück. Das berufliche Fortkommen hat einen hohen
Stellenwert und prägt im Wege des vorauseilenden Gehorsams die Inhalte der
Entscheidungspraxis. Eine hohe Erledigungsziffer gilt im Kollegenkreis immer
noch als Nachweis besonderer Befähigung. Eine Kritik in einer Fachzeitschrift
wird allemal ernster genommen als die von Prozessparteien. Die Aufhebung eines
Urteils durch die höhere Instanz wird als tadelnde "Schulnote"
missverstanden. Nicht wenige Richterkollegen beurteilen den Wert ihrer
richterlichen Arbeit nach der Anzahl ihrer Aufhebungen. Politisch steht der
Feind ‑ insbesondere bei den Obergerichten ‑ weiterhin links und
nicht rechts. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die erstinstanzlichen
Zuständigkeiten in politischen Strafsachen und bei Großprojekten bei den
Oberlandesgerichten beziehungsweise Oberverwaltungsgerichten angesiedelt worden
sind. Bei den Obergerichten hat Bismarck bis heute gesiegt. Die Sonderrichter
im Dritten Reich sind mit demselben Qualifikationsbegriff groß geworden wie die
Richter von heute. In der Personalförderung wird immer noch der
Rechtstechnokrat und Paragraphenreiter bevorzugt, der mit einem konservativen
Staatsverständnis ausgestattet, wendig und anpassungsfähig, mit schwach
ausgeprägtem Rückgrat an seiner Karriere bastelt. Der Richtertyp hingegen, der
menschlich empfindsam und unabhängig sein Amt wahrnimmt, der sich sozial
engagiert und sich dazu bekennt, hat in der Personalpolitik wenig Chancen. Dies
muss geändert werden. Neue Richterinnen und Richter braucht das Land. Es wird
Zeit, daß hierüber eine öffentliche Diskussion einsetzt.
Wolfgang Neskovic –
seinerzeit Vorsitzender Richter am Landgericht Lübeck, danach Richter am
Bundesgerichtshof und derzeit Mitglied des Deutschen Bundestages in der
Fraktion der PDS/Die Linke
Quelle: Zeitschrift für
anwaltliche Praxis (ZAP) vom 25.7.1990, S. 625
Anmerkung:
Es bedarf keiner
Hervorhebung, daß Neskovic mit seiner Kritik recht hat.
Die ZAP sticht aus den juristischen Zeitschriften
positiv hervor. Sie ist nicht nur für den Bereich der Rechtsanwaltspraxis
unverzichtbar. Wesentlich geprägt wurde sie durch Dr. Egon Schneider,
langjähriger Richter am Oberlandesgericht Köln und nach seiner Pensionierung
als Rechtsanwalt tätig.